Das Chaos verarbeiten

Kabarettist, Regisseur, Schauspieler und Musiker: Serdar Somuncu. Der Deutsch-Türke, der die gezielte Provokation sehr gut beherrscht, war sechs Jahre lang mit Adolf HitlersMein Kampf“ auf satirischer Lesereise. Auch in der Rolle des bissigen Predigers „Hassias“ spaltete er die Gemüter. Nun kommt Somuncu mit einem neuen Musikalbum daher. In „No(n)pology“ (dt.: Nicht-Entschuldigung) besingt er den Wahnsinn unserer Zeit – mal provozierend und derb, mal ganz zart und fein. Mit PUBLIC-Autor Olaf Neumann sprach Somuncu, 54, über Verleumdungskampagnen, den Ukrainekrieg und die Meinungsmache der Medien.

Was an Ihrem neuen, vierten Studioalbum „No(n)pology“ zuerst einmal überrascht: Sie beherrschen zahlreiche Musikstile, Genres und Instrumente. Wie kommt’s?

Musiker ist mein ursprünglicher Beruf! Ich habe auf den Konservatorien in Maastricht und Wuppertal studiert und hatte zuhause eine Gitarre, ein Klavier und ein Schlagzeug. Dass ich zu der Zeit keine eigene Band finden konnte, kam mir später zugute.

Wollten Sie bewusst ein Album über den Wahnsinn unserer Zeit machen?

Ich hatte gar keinen Plan, aber es entwickelte sich sofort eine Eigendynamik, die in eine ganz bestimmte Richtung ging. Ich war erstaunt über die vielen Hip-Hop-Anteile, weil ich vorher zu diesem Genre gar keinen Bezug hatte. Offensichtlich waren die Themen, die mich im Unterbewusstsein beschäftigten, sehr verwandt mit dem, was wir gerade alle besprechen: Krieg, zweieinhalb Jahre Corona, unsere Beziehungen im Netz, Twitter, Emanzipation. Und das habe ich verarbeitet.

Ihre Mittel sind Satire, Ironie, Sarkasmus. Kann man die Gegenwart nur so ertragen?

Man kann sie so besser ertragen. Mein großer Vorteil ist, dass ich auf der Bühne Satire machen und im Interview erzählen kann, was ich wirklich denke. Wenn ich nur das eine sein müsste, wäre ich überfordert. Sich so auszudrücken, dass man sich persönlich auch repräsentiert fühlt, ist heute kaum noch möglich. Das ist natürlich frustrierend, aber ich flüchte mich deshalb nicht in Ironie. Auf meinem Album gibt es auch sehr ernste Tracks wie das traditionelle Liebeslied „Herz hinter Gittern“.

Die Realität hat große Teile der Satire längst überholt, die Absurdität gehört heute zu unserem Alltag. Macht das Ihre Arbeit schwieriger?
Ich sehe Politiker, die sich wie Satiriker benehmen, nicht als Konkurrenten an, sondern eher als Leute, die das, was ich gut mache, schlecht nachahmen. In Grauzonen bewegen sich auch Leute, die keine guten Absichten haben. Die Art und Weise, wie wir heute kommunizieren, ist einerseits frei von moralischen Konventionen, andererseits maßlos, verletzend und bewusst provokant. Dieses Ungleichgewicht muss man in Kauf nehmen, wenn man heutzutage in der Öffentlichkeit einen Platz sucht – oder man muss es meiden, wenn man keinen Schaden davontragen will.

Sie sind immer in der Gefahr, missverstanden zu werden, weil eben die Lieder auf Ihrem Album doppelbödig sind und mit Andeutungen spielen. Wollen Sie das bewusst?
Ich habe in der Vergangenheit so viele Dinge ernst und gut gemeint, die missverstanden wurden, dass ich heute lieber in Kauf nehme, missverstanden zu werden für Dinge, die ich nicht ernst meine.

Ist der Künstler ein Einzelgänger, der zur Gesellschaft sagt: „Ihr müsst mich nehmen, wie ich bin, oder ihr lasst es sein“?
Ein Künstler tut das, was er tut, nicht, um irgendjemandem zu gefallen oder eine Meinung zu bestätigen. Sondern ich als Künstler repräsentiere mich und meine Meinung und Haltung zu den Dingen. Die Menschen können sich entweder darin wiedererkennen oder es ablehnen. In meiner Arbeit, die gemischt ist mit Politik- und Gesellschaftskritik, finde ich es wichtig, mutig zu bleiben und sich nicht einschränken zu lassen aus Angst, nicht mehr gemocht zu werden.

Es geht es Ihnen also nicht darum, bei jedem Lied die Zustimmung des Hörers zu bekommen?
Nein. Manchmal geht es mir sogar darum, eine Ablehnung zu provozieren. Das Lied „Beta Mann“ zum Beispiel enthält Andeutungen über den letztjährigen Comedy-Preis. Dort wurde Luke Mockridge öffentlich hingerichtet aufgrund eines Verdachts und keines Gerichtsurteils. Das ist etwas, was ich scharf kritisiere. Wir führen mittlerweile öffentliche Prozesse, ohne dass es eine Anklage gibt. Unser Gefühl entscheidet darüber, ob jemand schuldig ist und nicht das Gesetz. Da haben sich einige Leute in der Öffentlichkeit produziert auf Kosten der Gesundheit eines Menschen, und diese Protagonisten sind heute verschwunden, weil sie genau wissen, was sie da getan haben. Dass Luke Mockridge es geschafft hat, sich zu stabilisieren und in die Öffentlichkeit zurückzukommen, ist nicht selbstverständlich. Wir spielen viel zu oft mit dem Feuer, denn das sind keine Witzchen, die man einfach mal so auf Twitter machen kann, weil man sich auf der richtigen Seite wähnt. Sondern das sind existenzielle Dinge, die Menschen vernichten können.

In dem groovigen Song „Fame“ fallen Begriffe wie Ausbeutung, Hunger, Elend, Not, Tod, Waffenverkauf, Aggressionen oder Wut. Eine Zustandsbeschreibung des Krieges?
Das Thema des Songs ist die Verlogenheit und Doppelbödigkeit unserer Wahrnehmung. Auf der einen Seite dulden wir sehr viel; weit entfernte Konflikte interessieren uns nicht. Andererseits denken wir, die Welt zu verändern, indem wir eine Fußball-WM boykottieren, weil sie in Katar stattfindet. Wir sagen, das sei kein Land, in dem man solch ein Turnier durchführen darf, weil es korrupt und homophob ist. Aber ist Russland, wo die WM 2018 stattgefunden hat, weniger homophob? Ist China demokratischer? Auf der einen Seite gibt Robert Habeck dem Emir von Katar die Hand, weil wir von ihm kostengünstig Energie einkaufen wollen, andererseits sollen wir jetzt diese WM boykottieren. Dieses ganze Chaos, in dem auch ich mich selbst befinde, habe ich in dem chaotischen Song „Fame“ verarbeitet.

Apropos Russland: Haben Sie eine Idee, wie man einen Ausweg finden könnte aus der Eskalationsspirale?
Aus meiner Sicht gibt es keine andere Lösung als zu verhandeln. Das bedeutet, den Krieg zu beenden. Auch wenn eine Seite nicht bereit ist, etwas abzugeben. Man muss wohl oder übel Kompromisse eingehen. Man könnte unter UN-Beobachtung darüber abstimmen lassen, was mit den annektierten Gebieten passiert und dann dieses Ergebnis anerkennen. Damit müsste sofort ein Waffenstillstand eintreten, und die Forderungen seitens der Ukraine müssten von der Nato realistisch beantwortet werden. Das ist sehr kompliziert, aber nicht unlösbar. Ich würde mir wünschen, dass gerade Deutschland die Initiative als Vermittler ergreift und sich nicht auf die ein oder andere Seite schlägt. Wir sehen ja gerade, dass der Krieg sich durch die Rückeroberung von Cherson und die Waffenlieferungen verlängert hat. Dieser ganze große Haufen ist sehr leicht entzündbar.

Warum findet die früher starke Friedensbewegung so wenig Gehör?
Weil sie massiv eingeschüchtert und verunglimpft worden ist von denjenigen, die eigentlich auf der gleichen Seite wie die Friedensbewegten stehen. Es gibt ja eine sehr seltsame Kriegsbegeisterung der Intellektuellen, die meinen, es gäbe keine andere Wahl als schwere Waffenlieferungen. Deshalb wollten sie diesen Krieg, weil in der Ukraine unsere Werte verteidigt würden. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit.

Und was ist die andere Seite der Wahrheit?
Die Werte, die in der Ukraine verteidigt werden, sind erstens nicht meine Werte. Zweitens würde ich einmal hinterfragen, welche Werte das genau sind. Der Faschist Stepan Bandera zum Beispiel war am Mord an mehr als 100.000 Juden beteiligt – und wird in der Ukraine immer noch gefeiert. Nebenbei ist es auch kein wirklich schwulenfreundliches Land. Wenn wir auf der einen Seite über Werte sprechen, die in Katar nicht geachtet werden, sollten wir das auch im Fall der Ukraine tun. Diese Differenzierung wird aber von den meisten als Parteinahme für Putin wahrgenommen. Schnell werden Begriffe kreiert wie „Lumpenpazifist“ oder „Putin-Versteher“, die dazu beitragen, dass diese Diskussion nicht auf ein vernünftiges Podium getragen wird. Schon in der Corona-Zeit waren wir in ähnlicher Weise extremisiert und führten gar keine zielorientierten Diskussionen mehr. So wie dieser Krieg auf dem Schlachtfeld fortgeführt wird, geht er leider auch in den Kolumnen und Meinungsspalten weiter. Ich wünschte, es gäbe hier einen Konsens: nämlich Deutschland darf sich nie wieder an kriegerischen Maßnahmen beteiligen, sei es durch indirekte Waffenlieferungen oder direkte Teilnahme.

Was vermissen Sie bei der Berichterstattung über diesen Krieg?
Da landen wir schnell bei Harald Welzer und Richard David Precht. Ich kann ihrer These im Großen und Ganzen Recht geben. Ich bin seit Jahren mit öffentlich-rechtlichen Redaktionen beschäftigt, die meine Texte kontrollieren, zusammenstreichen, zensieren. Die These, dass wir es da mit einer gewaltigen vierten Macht zu tun haben, die Einfluss darauf ausübt, welche Diskussionen wie in der Öffentlichkeit stattfinden, ist aus meiner Sicht vollkommen zutreffend.

Welche Relevanz hat das für die Gesellschaft?
Diese These müsste eigentlich in der gesamten Gesellschaft besprochen werden, weil es uns alle betrifft. Es ist nicht nur denjenigen ein Bedürfnis, darüber zu sprechen, die jeden Montag auf die Straße gehen und „Lügenpresse“ skandieren. Sondern es ist auch für Menschen wie Sie und mich ganz wichtig, welche Informationen wir eigentlich bekommen, wie sie gefiltert werden und was sie erreichen sollen. Gerade im Rückblick auf die Pandemie wird deutlich, wie viele unterschiedliche Informationen wir in den letzten zweieinhalb Jahren bekommen haben, die immer wieder revidiert wurden. Und trotzdem findet darüber keine Auseinandersetzung statt. Es wird getan, als sei das, was man in den Medien gelesen und gehört hat, die ultimative Weisheit gewesen. Wir wissen jetzt, dass das nicht stimmt. Auch hinsichtlich des Ukraine-Kriegs gibt es eine vorgegebene Berichterstattung, von der man selten abweichen kann, ohne sanktioniert bzw. verhindert zu werden.

Wie informieren Sie sich?
Indem ich mir mit Lektüre Kenntnis verschaffe. Bei Konflikten wie dem in der Ukraine versuche ich, auch den geschichtlichen Kontext zu verstehen. Das füllt zumindest die Lücken. Eigentlich müsste man bis zur Oktoberrevolution zurückgehen, um zu verstehen, warum die Sowjetunion gegründet wurde und welche Rolle die Ukraine dabei gespielt hat. All das trägt dazu bei, dass man vielleicht irgendwann im Jahr 2014 landet und sich erklären kann, warum es die Proteste auf dem Maidan gab und was danach passierte. So dass wir diesen ganzen Krieg, der dort seit über acht Jahren stattfindet, aus einer anderen Perspektive betrachten können und vor allem die Rolle der EU und der Nato dabei anders verstehen. Denn die war sehr unrühmlich. Wenn jetzt so getan wird, als sei Putin der einzige Imperialist, der andere Länder überfällt, muss man leider sagen, dass die Amerikaner das oft auch getan haben. Selbst wenn es im Sinne der Gerechtigkeit geschah, heißt es nicht, dass sie dabei keine Zivilbevölkerung bombardiert oder sich an rein profitablen Kriegen beteiligt haben.

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