PUBLIC-Interview mit Sex Pistols-Gitarrist Steve Jones zur Biopic-Serie „Pistol“ und zu seiner Autobiografie 

„Ich habe seit 40 Jahren nichts mehr gestohlen“

Nur ein einziges Studioalbum brachten die Sex Pistols bis heute heraus, doch das reichte, um die Musik, die Popkultur und das Lebensgefühl gleich mehrerer Generationen von Grund auf zu verändern. Mit Gitarrist Steve Jones, 66, sprach PUBLIC-Autor Olaf Neumann.

Steve Jones, Sie sind im Londoner Stadtteil Shepherd’s Bush in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Wie sehr hat die Erfahrung der Armut Sie geprägt?

Wenn man auf diese Weise aufwächst, kennt man den Unterschied nicht. Man hat ja nicht viele Vergleiche. Das erste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mit meiner Großmutter und meiner Mutter zusammenlebte. Eine Zeit lang war es gut. Meine Großmutter war sehr fürsorglich, sie gehörte der einfachen Arbeiterklasse an. Aber als meine Mutter einen neuen Freund fand, zogen wir in diese Kellerwohnung. Wir waren sehr, sehr arm, hatten keinen Kühlschrank, keinen Fernseher und nur eine Außentoilette. Ich habe immer im Bett meiner Mutter geschlafen. Es war eine ziemlich düstere Zeit, aber ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht. Erst als ich älter wurde, merkte ich, wie arm wir waren, weil ich sah, wie andere Leute lebten. Da fragte ich mich, warum es denen besser geht als uns. Ich denke, das ist eine gute Eigenschaft. Dadurch versteht man das Leben besser, als wenn man mit einem silbernen Löffel geboren wird. Das sind doch langweilige Leute, die keinen Respekt vor hart arbeitenden Menschen haben. Das hat mir eine Menge Demut gegeben.

Sie schreiben, Ihre Mutter habe damals alles getan, um Ihren Stiefvater glücklich zu machen. Ging das oft zu Ihren Lasten?

Wo die meisten Eltern ihr Kind an die erste Stelle setzen würden, setzte meine Mutter mich an die zweite. Und das war nicht gut. Es war eine Qual für mich.

Ihre Mutter starb vor zwei Jahren. Haben Sie noch zu ihren Lebzeiten Ihren Frieden mit ihr gemacht?

Ich habe viel versucht, aber es war schwierig. Es war eine seltsame Beziehung. Am Ende habe ich aufgehört, es zu probieren, was okay für mich war. Ich war ja nicht in ihr Leben involviert. Und als sie dann starb, war ich in gewisser Weise erleichtert. Sie war sehr krank, sie hatte Krebs und Demenz. Ich schrieb einen Brief an meine Cousine in London, der an meine Mutter adressiert war. Den legten sie in den Sarg. Das war das letzte, was ich getan habe, um etwas zu verändern.

Als Zehnjähriger wurden Sie von Ihrem Stiefvater missbraucht. Wie sehr hat dieses Trauma Ihr späteres Leben geprägt?

Was den sexuellen Missbrauch angeht, kann ich mich nur an ein einziges Mal erinnern. Er zwang mich, ihm einen runterzuholen. Aber das war genug, um mich zu verwirren. Meine Mutter war nicht sehr fürsorglich und irgendwie kalt. Ich denke, sie tat wohl für ihre Verhältnisse ihr Bestes. Sie bekam mich, als sie 19 war. Ich glaube, meine Mutter hatte auch psychische Probleme. Diese Erfahrung hat mich definitiv zu dem gemacht, der ich heute bin. Ich finde es sehr schwer, eine längere Beziehung mit einer Frau zu führen. Ich habe in dieser Hinsicht keinen Erfolg. Es gibt einen kleinen Schalter in meinem Kopf, der mich nicht in die Lage versetzt, eine lange Beziehung zu führen. Ich glaube, dieser Zug ist abgefahren, denn ich bin jetzt 66. Ich habe kein Problem damit, aber ich hätte gerne die Möglichkeit gehabt, das zu tun. Ich konnte es nur mental nicht fassen.

Als Kind haben Sie sich mit sich selbst nicht wohl gefühlt. Das kam von dem, was Ihnen mit Pädophilen passiert ist. Sie haben sich dann zu einem meisterhaften Dieb entwickelt. Stärkte das Ihr Selbstbewusstsein?

Ich glaube, es ging mir mehr um die Aufregung als darum, etwas zu bekommen. Ich war einfach ein beschädigter Jugendlicher, der von nichts eine Ahnung hatte. Ich hatte keine Schulbildung. Meine Mutter hat mir nicht wirklich beigebracht, wie man lebt. Das ist einfach bedauerlich. Das Gute ist, dass ich es überstanden und seit über 40 Jahren nichts mehr gestohlen habe.

Sie lebten einige Jahre ohne eigene Wohnung in London. Mussten Sie oft im Freien übernachten?

Wenn ich nicht gerade bei Vivienne Westwood und Malcolm McLaren übernachtete, schlief ich im Haus der Eltern meines Freundes Paul (Cook) oder bei ein paar anderen Leuten. Ich habe wirklich nicht viel draußen geschlafen, nur ab und an. 

1972 sahen Sie sich Bowies berühmte Ziggy Stardust-Abschiedsshow im Hammersmith Odeon an – und stahlen dann den größten Teil seiner Ausrüstung. Waren Sie ein bisschen stolz darauf, eines Ihrer Idole beklaut zu haben?

Ja, es war großartig. Ich habe u.a. das Mikrophon mit seinem Lippenstift dran. In meiner Radioshow vor ein paar Jahren hatte ich seinen damaligen Schlagzeuger Woody Woodmansey zu Gast. Ich gestand ihm in der Live-Sendung, seine Becken gestohlen zu haben. Ich gab ihm etwas Geld und er war zufrieden. 

Haben Sie eigentlich das gesamte Equipment der Sex Pistols zusammengestohlen?

Das meiste davon, ja. Malcolm fand es einfach nur lustig.

Haben Ihre Songs und die anderer Punkbands die Gesellschaft verändert?

Ja, ich glaube schon. Die wichtigsten Punkbands neben uns waren The Clash, The Damned, The Buzzcocks. Sogar The Jam haben ein paar gute Songs geschrieben. Es war eine tolle Zeit für ein paar Jahre. Und dann sind wir einfach implodiert. Als wir uns trennten, änderte sich alles, denn viele junge Leute, die Hoffnung hatten, waren sehr enttäuscht. Unsere Trennung brach eine Menge Herzen.

Steve Jones: Meine Sex Pistols Geschichte, Hannibal, 360 Seiten,  25 Euro

Sechsteilige TV-Serie „Pistol“ ab 31. Mai vorerst exklusiv auf www.hulu.com

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