Das ewige Reptil
Vor 60 Jahren startete Iggy Pop seine musikalische Laufbahn. Auf dem Höhepunkt der Hippiebewegung erfand er den Punkrock. Am 21. April wird der Sänger, Songschreiber und Schauspieler 75 Jahre alt – und anschließend mit einem der wichtigsten Musikpreise der Welt beschenkt. Eine Huldigung von PUBLIC-Autor Olaf Neumann.
Sex, Drogen und Rock’n’Roll haben ihn gezeichnet, aber niemand hat so viele Leben wie Iggy Pop. Die Haut zerfurcht wie die einer Echse. Das Gesicht zerklüftet, aber weich und mit durchdringenden Augen. Viele der Falten sind Lachfalten. Der am 21. April 1947 in Muskegon/Michigan/USA als James Newell Osterberg geborene Sänger und Schauspieler sprüht momentan nur so vor Lebensfreude und positiver Energie. Dabei hat er seit dem Beginn seiner musikalischen Laufbahn im Jahr 1962 als Schlagzeuger bei den Iguanas praktisch keine Droge ausgelassen – und im Lauf der Zeit viele seiner Wegbegleiter sterben sehen. Auf die Brüder Ron und Scott Ashton folgte David Bowie. Mit dessen Hilfe machte Pop in den 1970er Jahren seine besten Soloplatten. In den 1980ern und 1990ern erschienen nicht viele Alben von ihm, die seinem Ruf als Pate des Punk gerecht wurden.
Wie ein Leguan schien Iggy Pop jahrelang in Kältestarre verfallen zu sein und suchte Umgebungen auf, in denen er geschützt war. Er tat sich wieder mit den Stooges zusammen und nudelte Abend für Abend dieselben Punkrock-Klassiker ab. Seine späten Studioarbeiten mit der Band bleiben kaum in Erinnerung. Aber das ewige Reptil weiß: Ein Künstler, der wachsen will, muss sich immer wieder häuten. 2016 erschien „Post Pop Depression“, mit dem Iggy Pop ein fulminantes Comeback gelang. Unterstützt wurde der schmale Sänger darauf von den Queens-Of-The-Stone-Age-Gitarristen Josh Homme und Dean Ferdita, Arctic-Monkeys-Schlagzeuger Matt Helders und Rick-Rubin-Mitstreiter Matt Sweeney.
Die als neue Supergruppe titulierte Band spielte das Album in Josh Hommes Pink-Duck-Studio in Burbank und in seinem Haus in Joshua Tree ein. Pops Texte darauf sind prägnant, kompromisslos und zuweilen philosophisch, und sein Gesang ist unerschrocken wie eh und je. Jemand schrieb einmal über Iggy Pops Stimme, sie klänge gleichzeitig nach Rauch und Öl. Inzwischen ist eine Prise Rost dazugekommen, aber zum Glück nur auf der Oberfläche. Das alles harmoniert trefflich mit den knackigen, kantigen Riffs und oftmals unvorhersehbaren Melodien, die Josh Hommes geschrieben hat.
Den einen oder anderen seiner Geburtstage hat der Erfinder des Stagediving oberkörperfrei auf einer Bühne verbrachte und sich dabei einmal mehr die äußere Schicht an harten Kanten in Fetzen abgestreift – und plötzlich schnappt es wieder zu, das alte Reptil. Weil der Punk-Senior Pop noch immer so gekonnt auf Messers Schneide zu tanzen vermag, durfte er im letzten Film seines Freundes Jim Jarmusch einen Untoten spielen. Quasi eine Zombie-Version seiner selbst. In „The Dead Don’t Die“ mimt der Sänger einen menschenmeuchelnden Totengeist, der sich von dem Stoff magisch angezogen fühlt, den er gemocht hat, als er noch am Leben war: Kaffee. Ein typischer Jarmusch-Scherz, denn im realen Leben griff Pop zu härteren Drogen: „Kokain, Heroin, LSD, Marihuana, MDMA und den ganzen Scheiß, aber nie Viagra!“ In Kolumbien hat er sich einer Lasik-Augenoperation unterzogen, um seine angeschlagene Sehkraft zu verbessern, die auf zu viel intravenöses Koks zurückzuführen ist.
Wer sich heute vier Jahrzehnte alte Pop-Preziosen wie „Zombie Birdhouse“ anhört, wird konfrontiert mit einer waghalsigen Mischung aus dröhnenden Synthies, Afro-Beats und frei assoziierten Texten. Das lässt diese Musik heute noch modern wirken. Produziert wurde das Album 1982 von Blondie-Gitarrist Chris Stein; Blondie-Sängerin Deborah Harry ist bei einem Song im Background zu hören. Der Rolling Stone bezeichnete „Zombie Birdhouse“ als eine intelligente, gut gestaltete Sammlung mit mehr Tiefgang als man vom Autor von „I Wanna Be Your Dog“ erwartet hätte.
Aber die Bedeutung dieses Klassikers ist nicht zu unterschätzen, gilt er doch als Urknall des Punkrock. Die Single erscheint im Juni 1969 als Vorbote des Albums The Stooges. Die Nummer ist so gestrickt, wie authentische Rockmusik sein sollte – laut, aggressiv und elektrisierend. Ein lärmiges, verzerrtes Gitarrenriff mit nur drei Akkorden wird von Ron Asheton praktisch drei Minuten lang wiederholt, dazu spielt Produzent John Cale von The Velvet Underground ein Riff auf dem Piano, das nur aus einem einzigen Ton besteht. Der Punkrock war geboren – sechs Jahre vor den Sex Pistols.
Der wüste Lärm von „The Stooges“ (1969), „Fun House“ (1970) und „Raw Power“ (1973) macht die Band zur Legende. Der junge Pop singt mit knarzender Stimme morbide Texte über Gewalt, Sex, Schmerz und fräst sich auf der Bühne blutende Wunden in die Brust. Dazu liefern Ron Asheton (Gitarre), Scott Asheton (Schlagzeug) und Dave Alexander (Bass) einen aggressiven Stimmungsschwall mit sägenden Gitarren und monotoner Powerrock-Rhythmik. David Bowie wird zum Fan der Prügelknaben und mischt ihr Meisterwerk „Raw Power“ so radikal ab, dass manchmal nur noch der Gesang und die Leadgitarre zu hören sind. 2010 werden Iggy Pop & The Stooges in die Rock And Roll Hall Of Fame aufgenommen.
Von 1976 bis 1978 leben Pop und Bowie in einem Altbau in Berlin-Schöneberg. Der außerirdische Thin White Duke im Vorder- und der hyperaktive Punk im Hinterhaus. Zwei drogensüchtige Freunde, die eigentlich am Ende ihrer Kräfte sind, aber die Arbeit an Iggy Pops Alben „The Idiot“ und „Lust For Life“ in den Hansa-Studios scheint sie auf wundersame Weise zu kurieren.
Pops Songs aus dieser Zeit wie „The Passenger“ und „Lust For Life“ bescheren ihm einen späten Popularitätsschub, indem sie in den Nuller Jahren häufig für Werbespots verwendet werden. Aber die Legende will nicht bis ans Ende ihrer Tage am Strand von Miami spazieren gehen, sondern sucht noch einmal eine echte Herausforderung. „Ich wollte an diesem Punkt meines Lebens meinen Wert als Künstler – und nicht als Symbol von irgendetwas – noch einmal prüfen“, sagt er. 2016 wird sein Comebackalbum „Post Pop Depression“ für einen Grammy nominiert.
Auf seinem bisher letzten Longplayer „Free“ (2019) macht sich der Sänger die Vorstellung zu eigen, dass er Iggy Pop spielt. Im Booklet gibt er zu, dass „dies ein Album ist, auf dem andere Künstler für mich sprechen, aber ich leihe ihnen meine Stimme“, weil er sich am Ende seiner Zusammenarbeit mit Josh Homme „ausgelaugt“ fühlte.
Und heute? Der Rocker ist jetzt auf einen Krückstock angewiesen, weil sein „Skelett“ seine „Schwachstelle“ ist, obwohl er für sein Alter immer noch muskulös zu sein scheint. Auf der Bühne versteht er es, seinen sehnigen Körper auf eine Art und Weise zu verdrehen, dass man befürchtet, seine Gelenke würden jeden Moment aus ihren Halterungen springen. Aber genau das will er vermeiden und deshalb sieht Pop seine Zukunft eher in der Schauspielerei. Ein vielleicht letztes Mal rafft sich der Altmeister dieses Jahr noch zu einer internationalen Tournee auf und spielt neben seinen Klassikern die stärksten Songs seiner jüngsten Alben.
Noch vor Tourstart wird der Sänger am 24. Mai in Stockholm mit dem Polar Music Prize geehrt. Er zählt zu den prestigeträchtigsten Musikauszeichnungen der Welt. Die Begründung der geschäftsführenden Direktorin des Preises, Marie Ledin, lautet: „Iggy Pop ist einzigartig. Es gibt niemanden wie ihn.“