Die Band Tocotronic singt auf ihrem neuen Album „Nie wieder Krieg“ über die Liebe und den Hass. PUBLIC-Autor Olaf Neumann traf sich mit Sänger Dirk von Lowtzow und Gitarrist Rick McPhail in Berlin. Ein Gespräch über die Wirkung von Kunst und Verschwörungstheorien.

Dem Pressetext zum neuen Album „Nie wieder Krieg“ ist das Zitat „Music is the healing force of the universe“ von Albert Ayler vorangestellt, dem Wegbereiter des Free Jazz. Haben Sie sich von Jazzern etwas abgeschaut?

Dirk von Lowtzow: Wir sind alle große Fans von ihm. Das Stück „Music is the healing force of the universe“ covern wir bei Konzerten immer am Ende unseres Songs “Freiburg“, in dem es um Hass geht. Aber sonst ist die Musik von Albert Ayler doch sehr weit von unserer entfernt. Wobei seine Sachen fast schon eine punkige Energie haben. 

Was haben Sie im Lauf der Zeit über die Heilkraft der Musik herausgefunden?

Rick McPhail: Es ist wissenschaftlich bewiesen, was Dopamin im Gehirn auslöst. Ein Adrenalinkick auf der Bühne wirkt wie Drogen. Man vergisst in dem Moment alle Probleme und konzentriert sich aufs Musikmachen. 

von Lowtzow: Bei Albert Ayler geht es um Musik als universumsverändernde Kraft. Aber im Kleinen kann Kunst allgemein schon jedes Einzelnen Welt ein bisschen verändern, indem man ein anderes Denken bekommt. 

Ihr Wegbegleiter Moses Schneider habe sich als Ihr Produzent neu erfunden und selbst übertroffen. Auf welche Weise?

von Lowtzow: Wir haben jetzt sieben Alben in 15 Jahren mit ihm zusammen gemacht. Moses möchte sich selber nicht wiederholen und hat für jede dieser Platten einen neuen Weg gesucht. Bei „Nie wieder Krieg“ kam uns die Corona-Pandemie dazwischen, weshalb wir Zeit gewannen und Moses sich außergewöhnlich sorgfältig mit den Liedern auseinandersetzen konnte. Manchmal verändert sich trotzdem etwas Entscheidendes, obwohl das Material Staub züchtet. Insofern hat Moses sich da selbst übertroffen. 

Wie hat sich das auf den Klang der Musik ausgewirkt?

von Lowtzow: Das Album klingt sehr rund. Bei Songs wie „Nie wieder Krieg“ oder „Ein Monster kam am Morgen“ haben wir mit Arrangements von Friedrich Paravicini gearbeitet. Auch das braucht Zeit. Diese Liebe zum Detail hört man dem Album an. 

Das erste Mal seit Jahren haben Sie sechs der Songs wieder live eingespielt, diesmal sogar mit Live-Vocals – und zwar in den Berliner Hansa Studios, wo Klassiker von David Bowie entstanden sind. Macht es einen Unterschied, wo man eine Platte aufnimmt?

McPhail: Es war einfach cool, dort zu sein mit dem Mixer Michael Ilbert. Auch die für mich wichtigen Platten „Black Celebration“ und „Some Great Reward“ sind in den Hansa Studios entstanden, zu denen Depeche Mode sich u.a. durch die Einstürzenden Neubauten inspirieren ließen. Dadurch hatte ich richtig Lust, einmal dort aufzunehmen. In den Hansa Studios hat sich seitdem wenig verändert. Wenn du weißt, dass deine Gitarre durch dieses legendäre Mischpult geht, ist das einfach schön. 

Ausgangspunkte der Lieder waren eigenes Erleben und eigene Beobachtungen und die dadurch aufgeworfen Fragen und Zweifel. Wie wird aus einer Beobachtung ein Song?

von Lowtzow: Ich habe nach der Tour von 2018 zuhause angefangen, neue Stücke zu schreiben und relativ schnell gemerkt, dass es ein erzählerisches und persönliches Album werden wird. Mit Geschichten von Menschen, die am Nullpunkt ihrer Existenz oder von einer inneren Zerrissenheit getrieben sind. Also quasi im Krieg mit sich selber stehen. So kam auch der Albumtitel zustande. Es ist ein Anknüpfungspunkt an unser Album „Kapitulation“ – weil die Songtitel „Kapitulation“, „Nie wieder Krieg“ und „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ eine schöne Reihe ergeben. In jedem einzelnen Lied der Platte steckt viel von mir und diesen sehr widersprüchlichen und teilweise quälenden Gefühlen und Erlebnissen drin. Dadurch, dass das Album so lange gelegen hat und zwischenzeitlich so viel passiert ist, habe ich das Gefühl, dass es vom Persönlichen weggeht, hin zu etwas Gesamtgesellschaftlichem. Viele gegenwärtige Stimmungen sind darin konserviert. Auch dabei hat die Zeit geholfen, in der wir Staub gezüchtet haben. Die Kunst arbeitet, auch wenn man nichts damit macht. 

Während der Corona-Pandemie war plötzlich von „kriegsähnlichen Zeiten” die Rede. Und Hetze, Hass und Gewalt prägen die Protestbewegung gegen die deutsche Corona-Politik. Wird Kunst in herausfordernden Zeiten wichtiger?

von Lowtzow: Ich glaube, Kunst ist immer wichtig. Man darf ihre Rolle nicht überbewerten, aber sie kann im Kleinen durchaus etwas bewirken. Nach meinem Verständnis ist Kunst das Gegenteil von Propaganda, weil diese immer aus Lügen besteht. Ein Kunstwerk kann aber kein Lügenwerk sein. Deshalb ist es vielleicht ein Gegengift gegen all diese Propaganda, der man ausgesetzt ist. Kunst ist dazu geeignet, innezuhalten und Dinge anders zu reflektieren. Man kann ihr manchmal auch etwas Prophetisches zuschreiben. In Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ etwa sagt jemand, er glaube, dass wir in einer Zeit der Feindschaft alle gegen alle lebten. Das war prophetisch und auf den Ersten Weltkrieg gemünzt. Vielleicht leben wir heute in ähnlichen Zeiten. Der Literaturwissenschaftler Josef Vogl schreibt in seinem aktuellen Buch „Kapital und Ressentiment“ über das Ressentiment, das durch Soziale Medien befeuert wird. 

Welche Rolle spielte Kunst in den USA während der Präsidentschaft von Donald Trump, einem Populisten und Antidemokraten?

McPhail: Ich höre nicht viel modernen Pop, aber ich hatte das Gefühl, dass nicht viele über Trump geschrieben haben. Im NDR habe ich mal in einer Sendung über Protestsongs gesprochen. Immer wieder ist es der gebürtige Kanadier Neil Young, der sich in seinen Songs über Politik beschwert. Im Nachhinein habe ich viele Lieder über den Irakkrieg gefunden, und im HipHop gibt es ein paar Stücke, die Trump kritisieren. Aber es ist immer noch nicht genug. Ich war auch sehr überrascht, dass kein Künstler auf Facebook etwas über den Freispruch von Kyle Rittenhouse geschrieben hat. Bei solch einer Sache ist es natürlich auch schwierig, die richtigen Worte zu finden. Ich glaube, man will so vermeiden, dass es wieder Aufstände gibt. 

von Lowtzow: Die Black Lives Matter-Bewegung ist aber popkulturell stark verwurzelt. In der Bildenden Kunst zum Beispiel spielt sie eine ungeheure Rolle. 

Hat es Sie überrascht, wie verwundbar unsere eigentlich robuste Demokratie ist?

McPhail: Diese ganze Lügenpresse-Sache hat schon unter George W. Bush angefangen. Das haben sich manche deutsche Politiker bei ihm abgeschaut. In der Iran-Contra-Affäre hat man sich über die Erinnerungslücken des US-Militärs Oliver North aufgeregt, aber jetzt kann sich ein Olaf Scholz an seine Treffen mit der Warburg-Bank nicht mehr erinnern. Solche billigen Tricks hätte man Spitzenpolitikern früher nicht durchgehen lassen. 

Ihr Song „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ enthält klare Aussagen. Haben Sie das Gefühl, dass man auf ewig daran erinnern muss, wie wichtig Statements gegen Rechts sind?

von Lowtzow: Diese Pflicht kann einem niemand nehmen. Das Stück ist auch ein Stimmungsbild von jugendlichen Driftern, die in Berlin in den Tag hineinleben und nichts tun. Ich liebe Songs, die die Atmosphäre des Sommers in der Großstadt einfangen. Ich dachte mir, dass muss dann aber im Refrain in die größtmögliche Attitüde münden. Also habe ich „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horvárth und Sonic Youths „Youth against Facism“ mittels eines surrealistischen Verfahrens zusammengelegt. Dadurch wird die Bedeutung verschoben. Ursprünglich bedeutet Jugend ohne Gott einen Mangel, hier ist es aber ein Mehrwert. Es ist also einerseits eine antifaschistische Aussage, andererseits ein Rock’n’Roll-Song mit Attitude. Ich wollte eine Jugend feiern, die nicht an patriarchale Strukturen und ein höheres Wesen glaubt. Eigentlich ist es Anarchismus. 

Haben Sie einen Draht zur Jugend?

McPhail: Ich habe die letzten zwei Jahre am Britisch Irish Modern Music Institute in Berlin unterrichtet. Da hatte ich sehr viel mit jungen Menschen zu tun. Und mein Sohn ist 19. Ich möchte aber nicht der grumpy old man sein, denn dann kommt man sich vor wie die Eltern, die in den 1960ern junge Leute kritisiert haben. 

von Lowtzow: Wir können von der Bühne herab keine empirischen Untersuchungen machen, aber wir haben insofern einen Draht, als dass wir bei unseren Konzerten auch deutlich jüngere Leute sehen. Diese generationsübergreifende Verbundenheit macht uns sehr glücklich. Manchmal begegne ich 20 Jahre Jüngeren, die uns von den Tocotronic-Aufklebern am Kühlschrank ihrer Eltern her kennen. 

Vor allem junge Menschen streamen nur noch einzelne Songs, und Alben gelten als Auslaufmodell. Interessiert Sie diese Entwicklung?

von Lowtzow: Für mich als Songschreiber ist die Einheit, in der ich denke, der Song. Auf Alben anderer Künstler:innen interessieren mich immer ganz besonders einzelne Stücke, und ich höre selten ganze Platten durch. Für unsere Arbeit hingegen ist das Albumformat sehr wichtig, weil es uns um eine Dramaturgie geht. Im besten Fall entspinnt sich eine Narration, bei der sich einzelne Stücke aufeinander beziehen. Das Schönste ist, wenn man am Ende mehr hat als die Summe der Einzelteile. Aber diese sind auch nicht zu verachten. 

Das Album klingt aus mit einem Lied über die Liebe. Was kann die Liebe in dieser Zeit?

von Lowtzow: In dem Stück ist die Liebe etwas, was rein mechanisch funktioniert. Fast wie ein Perpetuum Mobile, das einen mitnimmt. Andererseits hat sie durchaus auch abgründige und gefährliche Tendenzen, denn in dem Song dreht sie jemanden um. Eine Technik, wie man sie aus Spionagefilmen kennt, fast wie eine Gehirnwäsche. Aber wenn Liebe nicht gefährlich ist, ist sie auch ein bisschen langweilig. 

Apropos Gehirnwäsche: Heute glauben Qanon-Anhänger an die Existenz von Echsenmenschen. Wie erklären Sie sich die Rückkehr des Aberglaubens?

von Lowtzow: Diese Leute haben vielleicht immer schon an so etwas geglaubt. Man nimmt es jetzt nur stärker wahr, weil Verschwörungstheoretiker sich besser vernetzen können. Aber ich kenne mich damit nicht gut aus, weil ich frei von Sozialen Medien lebe. 

McPhail: Man muss zuerst an den Satan glauben, sonst wird man kein Qanon-Anhänger. Diese satanistischen Typen meinen, Bill Gates trinke das Blut von Kindern. Kreationisten glauben auch an die Wahrheit der biblischen Schöpfungsgeschichte. Die Evolution ist für die auch nur eine Theorie. Aber man kann kaum etwas hundertprozentig beweisen. Aber Sie reden mit einem Atheisten. 

von Lowtzow: Die meisten Verschwörungstheorien haben eine antisemitische Grundierung. Diese Legenden kommen aus dem christlichen Antijudaismus: Kinderblut trinken, Ritualmorde, Opferungen. Das ist eine moderne Ausdrucksform von 2000 Jahre alten antisemitischen Ressentiments. 

Haben Sie als Künstler das Gefühl, in einer spannenden Zeit zu leben?

McPhail: Kyle Rittenhouse ist natürlich ein Wahnsinnsthema, aber als Künstler denkt man, lass da mal lieber seriöse Zeitungen und Menschen ran, die besser über solche Ereignisse schreiben können. 

von Lowtzow: Wir sind halt ein Kollektiv, aber keine Redaktion. Als Künstler arbeitet man nicht redaktionell, sondern die Themen kommen zu einem. Daraus versucht man kleine musikalische Lebensdramen oder –komödien zu bauen. Ich glaube, in jedem Leben spielt sich etwas Politisches ab. In dem Sinne ist man als Künstler politisch. Man klebt zum Beispiel Sachen aneinander, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. So reproduziert man keine Klischees, sondern ermöglicht eine neue Sicht der Dinge, die dann in jemandes Leben eingreift.

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