Multiples Ego
Am 18. Mai 1980 nahm sich der britische Sänger Ian Curtis das Leben – 40 Jahre danach ist der Mythos vom König der Traurigkeit und seiner Band Joy Division lebendiger denn je. Soeben ist ein neues Buch über den Ausnahmekünstler erschienen. PUBLIC-Autor Olaf Neumann über den frühen Tod des Sängers.
Sein markanter tiefer Bariton klang wie das Echo, das aus der Tiefe eines Grabes widerhallt. Er sang über Sterben und Verderben; über Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit: Ian Curtis. Der Brite war fasziniert von den dunklen Welten eines Franz Kafka und schrieb literarisch brillante Songtexte, die er auf der Bühne zuweilen roh und aggressiv herausschrie. Mit 23 Jahren nahm er sich das Leben und hinterließ gerade mal zwei Alben, die er mit Joy Division aufgenommen hatte. Diese reichten aus, um die Band und sich selbst unsterblich zu machen. Heute steht der am 15. Juli 1956 im Ballungsraum Manchester geborene Ian Curtis in einer Ahnenreihe mit Jim Morrison und Kurt Cobain.
Robert Smith, Sänger von The Cure und ebenfalls nicht unerfahren in der künstlerischen Seelenerforschung, über sein erstes Hörerlebnis mit Joy Division: „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich selbst jemals so etwas Mächtiges wie diese Platte (Closer, die Red.) aufgenommen hätte. Ich dachte, ich muss mich erst umbringen, um solch etwas Überzeugendes machen zu können“.
Joy Division waren herausragend. Sie verstanden es, in ihrem revolutionären Post-Punk-Sound Gefühle, Leid und Schrecken autentisch auszudrücken. Man glaubte, der Sänger würde direkt zu einem sprechen. Curtis’ Grabesstimme ging durch Mark und Bein. Klaustrophobische Songs wie „Isolation“, „Disorder“ oder „A Means To An End“ waren eigentlich viel zu persönlich für eine Pop-Platte.
Joy Division wurde 1976 von dem Gitarristen und Keyboarder Bernard Sumner und dem Bassisten Peter Hook gegründet. Auslöser war ein Konzert der Sex Pistols in Manchester. Anfangs nannten sie sich noch Stiff Kittens, zeitweise Warsaw. Später stieß der 20jährige Ian Curtis dazu, der auf seine Jacke in orangener Neonfarbe das Wort „Hate“ gesprüht hatte. Es war die Zeit, als das britische Empire zerbröckelte, es gab viele Arbeitslose, eine hohe Inflationsrate. Der IRA-Konflikt und die Hooligan-Gewalt verstärkten die düstere Stimmung in Nordengland. Das durch qualmende Fabrikschlote gezeichnete Manchester der 1970er Jahre war von Anfang an in der Musik von Joy Division präsent: Ihr Post-Punk klang kalt, karg und trostlos. Peter Hook spielte häufig die Hauptmelodie auf seinem Bass. Zu den Clubs fuhr die Band oft in geliehenen, schäbigen Fahrzeugen; die Gage war jämmerlich niedrig oder nicht existent, für die Kunst wurden Kälte und Hunger in Kauf genommen.
Seinen ersten epileptischen Anfall erlitt Curtis am 27. Dezember 1978 auf der Rückfahrt von Joy Divisions erster London-Show, die der Sänger als extrem misslungen empfand. Trotz seiner Krankheit hielt Curtis um jeden Preis an Joy Division fest. Er wurde sogar immer ehrgeiziger und wollte irgendwann einen Roman schreiben. Seine bizarren Bewegungen auf der Bühne wirkten zuweilen wie Anfälle, aber sie hatten nichts mit der Krankheit zu tun. Der Autodidakt war wohl auf der Suche nach einer möglichst originellen Performance. Leider „experimentierte“ er dabei zuweilen auch mit Nazi-Ästhetik oder ähnlichen fragwürdigen Designs.
Heute vermutet man, dass Ian Curtis an einer bipolaren Störung litt. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gespaltene Persönlichkeit mit enormen Stimmungsschwankungen. In dem Song „Digital“ zum Beispiel sang er „Feel it closing in, day in, day out“ (Fühle wie es näher kommt / Tag ein / Tag aus). Und in „Dead Souls” heißt es „A dual of personalities / that stretch all true realities” (ein Kampf der Persönlichkeiten / der alle wahren Realitäten ausdehnt). Der Ehemann und Vater war stolz darauf, tagsüber beim Arbeitsamt von Macclesfield Behinderte unterstützen zu können. Nach Feierabend fröhnte er seiner Obsession für jung verstorbene Film- und Rockstars, las bei Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse und Oscar Wilde über menschliches Leiden und jagte nachts als Rocksänger Groupies wie Annik Honoré, mit der er eine leidenschaftliche, aber angeblich platonische Beziehung begann. Joy Division-Bassist Peter Hook glaubt, dass der chamäleonhafte Frontmann einfach zu viele verschiedene Persönlichkeiten hatte, die miteinander konkurrierten. Nicht einmal Curtis selbst soll gewusst haben, wer der Wahre „Ian“ war. Auch wenn die Fotos, die von ihm gemacht wurden, eine andere Sprache sprechen: Der Sänger war nicht nur der verzweifelte, zurückgezogene, düster dreinblickende romantische Held, sondern laut Hook „einer von uns“, der anderen gefallen wollte.
Deborah Curtis glaubt, dass ihr verstorbener Mann an seinem Unglücklichsein auch ein bisschen Gefallen fand: „Er schwelgte in diesem Gefühl. Es gab Phasen, in denen wir sehr glücklich waren, aber nur bei uns zu Hause oder beim Spazierengehen. Ich vermute, es wäre ihm irgendwie unangenehm gewesen, wenn seine Freunde gewusst hätten, dass er eigentlich ganz glücklich war. Ian besaß Charisma, er konnte Menschen für sich einnehmen, so dass sie sich seinem Willen fügten. Er war einfach anders, weshalb er sehr bewundert wurde“.
Ian Curtis wollte wie Jim Morrison sein, jemand, der berühmt wird und dann stirbt. In einer Band zu sein ist ihm sehr wichtig gewesen. Das habe er laut Deborah sehr zielstrebig verfolgt. Und er sagte seiner Frau auch, dass er nicht älter als 25 werden wolle.
Im Tod sah Curtis möglicherweise den einzigen Ausweg. Das zweite Joy Division-Album „Closer“ wollte er eigentlich gar nicht machen, ihm waren „Unknown Pleasures“ und die Maxisingle „Transmission“ genug. Im Studio erlitt er immer wieder epileptische Anfälle, wobei er sich auf der Toilette fast den Schädel aufschlug. Einmal verletzte er sich absichtlich mit einem Küchenmesser. Der Druck auf den Sänger seitens seiner Mitmusiker und des Labels Factory Records war ungeheuer. Die Band stand im Mai 1980 kurz vor der ersten Amerikatour. Hätte Curtis dazu Nein gesagt, wäre für seine Freunde ein Lebenstraum zerplatzt. Er brachte es einfach nicht übers Herz, auszusprechen, dass er lieber in ein Krankenhaus gehen sollte als nach Amerika. Stattdessen erzählte er Lügen, die bei ihm immer sehr überzeugend rüberkamen. Ian Curtis war selbst zu seinem größten Feind geworden. Zwei Tage vor dem geplanten Abflug erhängte er sich in seinem Haus in Macclesfield bei Manchester.
40 Jahre danach sind Joy Division immer noch Kult und haben unzählige Bands wie Depeche Mode, U2, The Cure, Nine Inch Nails oder Nirvana beeinflusst.
Jon Savage: Sengendes Licht, die Sonne und alles andere: Die Geschichte von Joy Division. Aus dem Englischen von Conny Lösch; Heyne Verlag, München 2020, 20 Euro