Wie die E-Gitarre die Welt eroberte
Sie ist das Symbol des Rock’n’Roll schlechthin. Ohne die elektrische Gitarre wäre die gesamte populäre Musik nicht denkbar. Ihre Ursprünge liegen 100 Jahre zurück. PUBLIC-Autor Olaf Neumann lässt die Saiten kreischen.
Kaum ein Instrument hat die Welt so nachhaltig verändert wie die elektrische Gitarre. Ihr Klang hatte die Wucht einer Kulturrevolution. Kaum zu glauben, dass bereits zu Urgroßvaters Zeiten akustische Gitarren erstmals mit elektrischer Verstärkung gespielt wurden. Neun Jahrzehnte später umgibt die E-Gitarre noch immer eine mystische Aura. Niemand weiß so recht, wie dieses verführerische Saitenspiel der Gefühle zustande kommt, dem so viele Menschen verfallen sind. Wir reagieren euphorisch auf diese lautstarke und undurchschaubare High-Tech-Erfindung. Sie wirkt magisch und aufpeitschend vor allem auf unsere unteren Körperregionen.
Mitte des 19. Jahrhunderts suchten Instrumentenbauer nach Möglichkeiten, der zarten und leisen Akustikgitarre lautere und vielseitigere Klänge zu entlocken. 1840 gestaltete Christian Friedrich Martin (1796-1873) den hölzernen Korpus so um, dass man ihn mit Metallsaiten bespielen konnte. Dadurch erreichten die Instrumente des in die USA ausgewanderten Gitarrenbauers aus Markneukirchen im Erzgebirge eine viel höhere Lautstärke. Eine noch geräuschvollere Akustikgitarre – mit gewölbter Decke und nach hinten gewinkeltem Hals – konstruierte der Amerikaner Orville Gibson (1856-1918) im Jahr 1902. Er orientierte sich dabei an den Geigen von Stradivari.
Ab 1920 experimentierten eine ganze Reihe von Tüftlern mit elektrischen Instrumenten, von denen etliche später für sich beanspruchten, der wahre Erfinder der E-Gitarre zu sein. John Dopyera (1893-1988) zum Beispiel entwickelte in Los Angeles ein System der Klangverstärkung auf rein akustischem Weg, ähnlich dem, das damals die Schellack-Platten zum Klingen brachte. Seine Resonator-Gitarren der Marke Dobro gelten zweifellos als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der E-Gitarre.
Henry Kay „Hank“ Kuhrmeyer (1894-1956) brachte 1928 mit seiner in Chicago ansässigen Stromberg-Voisinet Company die „Stromberg Electro“-Flat-Top-Gitarre auf den Markt. Es war die erste kommerzielle elektrische Gitarre überhaupt. Trotz ihres bahnbrechenden Status‘ war die Stromberg nicht das, was man sich heute unter einer E-Gitarre vorstellt, weil sie z.B. noch keine elektromagnetischen Pickups hatte. Sie nahm die Schwingungen vom Korpus ab und nicht von den Saiten. Das funktionierte über eine Metallstange (Transducer), die den Resonanzboden mit Magneten verband, die im Instrument selbst angebracht waren. Nichtsdestotrotz waren insbesondere Chicagos Hillbilly-Radio-Performer begeistert von der Stromberg und von Kuhrmeyers Verstärkern. Hank Kuhrmeyer ließ jedoch nur wenige Exemplare anfertigen, und mit Beginn der großen Depression verschwand seine Erfindung wieder vom Markt.
Erste Versuche mit elektromagnetischen Tonabnehmern präsentierte Orville Gibsons leitender Ingenieur Lloyd Loar (1886-1943) bereits im Jahr 1923. Ein von ihm entwickelter Sensor, der die Deckenschwingungen eines Saiteninstrumentes mit Massivholzkorpus aufnehmen und in ein elektrisches Signal transformieren konnte, ließ sich am Markt nicht durchsetzen. Erst 1933 brachte Loars mit der Firma Vivi-Tone solche Tonabnehmer serienmäßig auf den Markt. Auch der Texaner George D. Beauchamp (1899-1941) war besessen von der Vorstellung einer elektrisch verstärken Gitarre. Da der passiven Vergrößerung des Klangvolumens natürliche Grenzen gesetzt sind, kam er 1924 schließlich auf die Idee, die Schwingungen der Saiten seiner Steel-Gitarre direkt am Entstehungsort abzugreifen. Dazu befestigte er den elektromagnetischen Tonabnehmer eines Plattenspielers an seinem Instrument. Um seine Innovation zu vermarkten, brauchte der Nachwuchstüftler kompetente Unterstützung.
Fortan feilte er gemeinsam mit dem Schweizer Emigranten Adolph Rickenbacker (1887-1976) an einem Serienmodell. Der urige Holzklotz fing sich aufgrund seines kleinen kreisrunden Korpus‘ und den sechs Stahlsaiten den Namen „Bratpfanne“ (engl.: Frying Pan) ein. 1931 entwickelte das Duo einen Tonabnehmer, der sich die Saitenschwingung von Stahlsaiten direkt zunutze machte. Damit war die erste serienmäßige elektrische Lap-Steel-Gitarre erfunden. Nach dem Vorbild der Rickenbacker Electro A-22 funktionieren auch heute noch fast alle Stromgitarren. Da Adolph Rickenbacker gute Beziehungen zur US-Unterhaltungsindustrie hatte, erklang seine „Volksgitarre“ alsbald auf zahlreichen Hits von Bing Crosby (1903-1977) bis Sol Hoopii (1902-1953), dem wohl populärsten Hawaiianischen Steel-Gitarristen aller Zeiten.
Nicht nur deshalb sah die Konkurrenzfirma Gibson sich gezwungen, mit einem eigenen, konventionell geformten Modell nachzuziehen. Der farbige Musiker Charlie Christian (1916-1942) wurde in der zweiten Hälfte der 1930er zum ersten Star eines völlig neuen Instruments, dessen wohlgeformter Körper den Rundungen einer Traumfrau nachempfunden schien. Dank des elektrisch verstärkten Klangs seiner Gibson ES-150 war der junge Schwarze aus dem Orchester des weißen Bandleaders Benny Goodman (1909-1986) fortan in der Lage, auf dem altgedienten Rhythmusbrett endlich auch Soli zu spielen. Er sollte nicht der einzige Innovator bleiben.
Parallel entwickelte der Blueser T-Bone Walker (1910-1975) aus Texas mit einer von Leo Fender (1909-1991) konstruierten E-Gitarre gänzlich neue Ausdrucksformen. Fender, ein ehemaliger Rundfunktechniker aus Südkalifornien, begann nach dem Krieg, E-Gitarren mit einem massiven Korpus in Serie herzustellen. Die Fender Telecaster verursachte keine Rückkopplungen mehr und war enorm widerstandsfähig. Leo Fender hatte sein „Baby“ so weit vereinfacht, dass es praktisch von jedem Hobbymusiker mit einem Schraubenzieher und einem Lötkolben in alle Einzelteile zerlegt und wieder zusammengeschraubt werden konnte.
Die Idee, den hohlen Korpus durch einen massiven zu ersetzen, ging ursprünglich von Les Paul (1915-2009) aus. Der Wahl-New Yorker gehörte Ende der 1940er Jahre zu den populärsten Gitarristen der USA. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass die E-Gitarre eigentlich gar keinen Hohlkörper brauchte. Der sorgte ohnehin nur für störende Rückkopplungen. Paul stellte sein Know-how schließlich Gibson zur Verfügung und so kam 1952 das berühmte Les-Paul-Modell auf den Markt. Es war von Anfang an auf Qualität ausgerichtet: Ein edler Korpus aus Schichten von Ahorn und Mahagoni, ausgeliefert in goldfarbener Lackierung. Fender reagierte prompt und präsentierte 1954 mit der Stratocaster eines der erfolgreichsten Modelle überhaupt. Hier endet praktisch die Entwicklungsgeschichte der E-Gitarre.
Gleichzeitig war ihr Siegeszug als Herz einer kulturellen Revolution nicht mehr aufzuhalten. Die Medien schlugen Kapital aus dem Image des rebellischen Rock’n’Rollers mit angeklatschtem Haar, Lederjacke, Motorrad – und E-Gitarre. In ihren frühen Tagen spielten die Beatles gleich diverse Rickenbacker-Modelle. Allein John Lennon (1940-1980) besaß vier davon. Jimi Hendrix (1942-1970) war Mitte der 60er der erste, der seine Fender Stratocaster so spielte, als stünde er selbst unter Strom. Les Paul hatte sie alle überlegt. Das 2009 im biblischen Alter von 94 gestorbene Multitalent war nicht nur ein technischer Innovator, er war auch musikalischer Begleiter von Frank Sinatra (1915-1998), Django Reinhardt (1910-1953) und Bing Crosby (1903-1977). Heute gilt Les Paul als einer der frühen Virtuosen auf der E-Gitarre. „Seine“ Gibson Les Paul wird seit über einem halben Jahrhunderts ununterbrochen von Legionen von Musik-Legenden gespielt. Doch die Traditionsmarken wie Gibson, Fender, Gretsch und Rickenbacker reproduzieren sich heute eigentlich nur noch selbst.
Seit der legendären Fender Stratocaster, dem neuen Symbol der aufstrebenden Jugend, hat sich auf dem Sektor der elektrischen Gitarre nichts Revolutionäres mehr ereignet. Die meisten Modelle sind in technischer Hinsicht lediglich Variationen des immer gleichen Themas. Ausnahme: Ende der 70er präsentierte der US-Amerikaner Floyd Rose (geb. ca. 1945) ein bahnbrechendes Vibratosystem. Sein „Locking Tremolo“ war eine Weiterentwicklung des Vintagetyps der Stratocaster. Mit einem Tremolo lässt sich die Tonhöhe stufenlos manipulieren; zudem ist ein Vibratoeffekt möglich. Inzwischen gibt es sogar selbststimmende Gitarren mit kleinen Elektromotoren in den Mechaniken. Aber die will eigentlich keiner haben.